Ich bin nicht nur freiberuflicher Fotograf, sondern auch Politik- und Sprachwissenschaftler [1]. Seit letztem Jahr verknüpfe ich neben meiner Selbstständigkeit sozialwissenschaftliche Fragestellungen mit Dokumentarfotografie an der Uni [2].
Mein Interesse daran ist nicht neu und floß auch schon in meine Abschlussarbeit an der Fotoakademie Köln ein: Mithilfe des Milieubegriffs wollte ich gesellschaftliche Diversität erschließen und besuchte dazu Menschen zuhause. Im Laufe des Projekts fiel mir auf, dass der Milieubegriff, mit dem ich mich bis zu diesem Zeitpunkt nur rudimentär auseinandergesetzt hatte, doch weitaus komplexer und schillernder ist, als zunächst angenommen [3]. Zur Erschließung der Theorie und zur praktischen Umsetzung habe ich angefangen, mir einen digitalen Zettelkasten aufzubauen, den ich über das Projekt hinaus verwende und fortführe.
Das Zettelkastenprinzip kann in allen Bereichen, in denen mit Wissen umgegangen wird, nützlich sein. Auch Rezepte, Lichtsets oder Akquisearbeit sind je nach Perspektive Wissensressourcen. So kann ich den Zettelkasten beispielsweise nutzen, um meine Kundschaft bei der Entwicklung von Projekten zu unterstützen oder meine eigenen zu entwickeln.
Zettel… was?
Das Zettelkastenprinzip ist der Oberbegriff für einen Methodensatz zur Wissensarbeit und geht in seiner prominentesten Form auf den Soziologen Niklas Luhmann zurück [4] . Bei einem Zettelkasten handelt sich zunächst um nichts anderes, als einen Karteikasten. In diesem werden Karteikarten aus "atomisierten" – das heißt aufs Elementarste eingedampften – Gedanken und Ideen systematisch miteinander verknüpft.
Diese Karten heißen Zettel. Luhmann verwendete dabei ein eigenes System aus Schlagwörtern und Folgezetteln, die er nach einem bestimmten Muster nummerierte.
Alle bestehenden Methodenarten beinhalten im Kern vier Schritte:
- Notizen zu Text/Film/Wissensquelle machen
- Bibliografische Notizen machen (Wo kommt das Wissen her? Was ist der Kern des Textes insgesamt?)
- Das Gelesene dekontextualisieren und auf permanente Karten überführen
- Das Gelesene mit bereits Gelerntem verknüpfen/in Bezug setzen
Da im Gehirn gespeichertes Wissen eine relativ kurze Halbwertzeit von wenigen Jahren besitzt, ist ein Ziel des Zettelkastens die Auslagerung und Speicherung von Informationen. Gleichzeitig ist der Zettelkasten ein "Kommunikationspartner", mit dem man denkt und arbeitet. Das heißt, dass man das erarbeitete Wissen miteinander verbindet und zu neuem Wissen verknüpft. Bislang unerwartete Verbindungen werden so sichtbar – oft auch durch Zufall. Dadurch vertieft und erweitert sich zudem das eigene Denken [5].
Mit der digitalen Revolution kamen auch digitale Lösungen für Wissensmanagement. Beispielsweise gibt es seither Volltextsuche und die Möglichkeiten dynamischer Verlinkungen, die ein bestimmtes Nummerierungssystem obsolet machen [6]. Jeder Zettelkasten (egal, ob digital oder analog) gestaltet sich anders und ist auf die individuellen Bedürfnisse und Workflows der Besitzerin/des Besitzers ausgerichtet. Für meinen Zettelkasten verwende ich Textdateien im MultiMarkdown-Format, die ich im Texteditor The Archive öffne. Für weitere Funktionen wie dynamische Verlinkungen benutze ich Keyboard Maestro und als meine Quellenverwaltung BibDesk, die ich in den Zetteln integriere.
Und wie kommt da die Fotografie ins Spiel?
In meinen Zettelkasten wandert alles, was irgendwie mit Wissen zu tun hat. Sei es Wissen zu Bildgestaltung, Wissen zu sozialwissenschaftlichen Theorien, Wissen zu Lernmethoden, Wissen zu Protestbewegungen, Wissen zu Businessmodellen, Wissen über Licht, Wissen zu türkischen Rezepten etc…
In meinem Zettelkasten verknüpfe ich Information mit meinen Ideen, also mit allem, was ich denke, entwickle und tue. In meinem Zettelkasten baue ich Entwürfe zu Blogartikeln wie diesem, Papern und Projektanträgen. Da alles Wissen an einem Ort ist, muss ich auch nicht mit Ordnern oder Apps hantieren, sondern kann in meinem Texteditor die einzelnen Textdateien (digitale Zettel) schnell und unkompliziert wiederfinden. Weil alles digital und nichtlinear ist – anders als ein Notizbuch –, muss ich auch nicht ewig blättern, um meine unleserliche Handschrift zu entziffern.
Ich kann meinen Zettelkasten fragen: Was haben Henri Cartier Bresson und die Frankfurter Schule gemeinsam und was unterscheidet sie? Ich weiß es (noch) nicht, aber solche Fragen lassen sich an den Zettelkasten stellen. Gleichzeitig nutze ich den Zettelkasten zur Entwicklung eines Kundenprojekts oder eines eigenen Fotoprojekts. Das Schöne bei alledem: Egal, ob praktische Aufgabe oder wissenschaftliche Fragestellung, am Ende kann ich bedeutungsvolle Verbindungen herstellen, an die ich sonst nie gedacht hätte.
Die Struktur für das Wissen wächst mit der Zeit von selbst.
In den kommenden Artikeln möchte ich hin und wieder auf meinen Workflow eingehen, den ich mir im letzten Jahr Stück für Stück angeeignet habe (und den ich kontinuierlich weiterentwickle). Eine große Ressource ist dabei die Plattform zettelkasten.de und das dazugehörige Forum, in dem Workflows ausgetauscht und diskutiert werden sowie Skripte und Macros geteilt werden, mit denen man das eigene System verbessern kann.
Quellen und Fußnoten
[1]: Keine Sorge, das hier wird jetzt kein Proseminar.
[2]: Das klingt jetzt heißer gekocht, als gegessen. Ich bin da nicht der einzige und schon gar nicht der erste, der sich damit auseinandersetzt.
[3]: Die Arbeit war wohlgemerkt keine soziologische Dissertation, sondern eine fotografische Abschlussarbeit von nur 4 Monaten, was auch einer der Gründe ist, warum ich das Projekt 2021 fortführen werde.
[4]: Omi, Shu (09.02.2020): What is the Zettelkasten Research Method? URL: https://www.shuomi.me/blog/what-is-the-zettelkasten-research-method (zuletzt aufgerufen am: 2. Januar 2020).
[5]: Ahrens, Sönke (2017): Das Zettelkasten-Prinzip. Erfolgreich wissenschaftlich Schreiben und Studieren mit effektiven Notizen. Norderstedt: BoD – Books on Demand.
[6]: Tietze, Christian (2015): Why You Should Set Links Manually and Not Rely on Search Alone. In: Zettelkasten.de. URL: https://zettelkasten.de/posts/search-alone-is-not-enough/ (zuletzt aufgerufen am: 2. Januar 2020).
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